01.09.1939 Anordnung der Sicherungsverwahrung 23.03.1944 KZ Mauthausen 09.04.1944 KZ Ebensee
Anton Stemmer wurde am 12. September 1909 in Rot an der Rot im heutigen Landkreis Biberach als Sohn des Korbmachers Ernst Stemmer und seiner Frau Sophie, geborene Graf, geboren und katholisch getauft. Er besuchte die Volksschule und verdingte sich anschließend drei Jahre als Dienstknecht. Er blieb ledig, hatte aber ein uneheliches Kind. Seine Familienverhältnisse wurden in späteren Gutachten als "sehr ungünstig" bewertet, weil der Vater mehrfach wegen Diebstahls verurteilt worden war und insgesamt sieben Jahre im Zuchthaus Ludwigsburg zugebracht hatte.
Da als Quellen nur Gerichts- und Gefängnisakten vorliegen, kann hier im Wesentlichen nur die überlieferte kriminelle Lebensgeschichte Anton Stemmers wiedergegeben werden. Immer wieder wurde in den Gutachten, Urteilsbegründungen etc. hervorgehoben, dass er als landwirtschaftlicher Arbeiter von seinen Arbeitgebern sehr geschätzt wurde und mit ihnen gut auskam. Ein Landwirt schrieb im Dezember 1938 sogar an das Zuchthaus Ludwigsburg, dass er Stemmer nach dessen Haftentlassung bei sich einstellen würde.
Eine erste gerichtliche Strafe erhielt er 1926 16jährig wegen Fahrraddiebstahls. 1927 vergewaltigte er mit noch nicht 18 Jahren eine 40 Jahre alte Frau im Wald. Die Tat wurde mit auffallender Brutalität begangen. Das Schöffengericht Ravensburg verurteilte ihn dafür am 3. November 1927 zu eineinhalb Jahren Gefängnis. Im November 1929 beging Stemmer ein nach Auffassung des Gerichts besonders gemeines Verbrechen, indem er seinem Freund vorschwindelte, dieser werde wegen eines (tatsächlich begangenen) Betrugs von der Polizei gesucht und ihm riet, zu flüchten. Nachdem der Freund das Weite gesucht hatte, ging Stemmer zu dessen Arbeitgeber und räumte den Schrank seines Freundes aus, darunter ein Sparbuch mit einem Guthaben von 650.- Reichsmark. Mit einem gefälschten Brief (eine angebliche Anweisung seines Freundes) hob er das Geld ab und verschwendete es. Die vorgefundenen Kleidungsstücke und Gegenstände behielt er für sich oder verkaufte sie. Diese Tat wurde mit 3 Monaten Gefängnis geahndet. 1930 folgten vier weitere Verurteilungen wegen Unterschlagung, Diebstahl, Betrug und Urkundenfälschung.
Im Dezember 1931 setzte er Stall und Scheuer eines Bauern, bei dem er fünf Jahre zuvor gearbeitet hatte, in Brand. Dabei entstand ein Sachschaden von rund 30.000 Reichsmark. Laut seiner eigenen Aussage habe er von dem Bauern nur Gutes erfahren und man sei in Frieden voneinander geschieden. Als Motiv für die Brandstiftung gab er an, er habe damals bei seinen Eltern gewohnt und heftige Konflikte mit seinem Vater gehabt. Er habe unbedingt ins Gefängnis gewollt, um diesen familiären Verhältnissen zu entkommen. Für diese Tat wurde er mit 2 Jahren 3 Monaten Gefängnis bestraft. Die Strafe verbüßte er bis September 1933 im Landesgefängnis Heilbronn, dann im Landesgefängnis Rottenburg. Im Oktober 1933 reichte er dort ein Gnadengesuch für eine Strafverkürzung ein, das der dortige Gefängnispfarrer Sieber und Justizrat Lupfer ablehnend beurteilten: "Bei der Veranlagung des Stemmer ist von einer Begnadigung kein erzieherischer Erfolg zu erwarten. Er kann auch für andere keine Hilfe sein, ohne ihnen selbst oder der Allgemeinheit durch seine Haltlosigkeit Schaden zu stiften. Deshalb ist es für ihn und die Öffentlichkeit am besten, wenn er seine Strafe restlos verbüßt."
Am 20. November 1933 wurde Anton Stemmer wegen "längerer Ausfälle" aufgrund einer Kopfverletzung bei einem Fahrradsturz zu einer neurologischen Begutachtung in die Invalidenabteilung des Zuchthauses Ludwigsburg auf den Hohenasperg verlegt. Im Abschlussgutachten zu seinem Strafhaftende am 21. März 1934 hieß es: "Stemmer macht den Eindruck eines psychisch anormalen Menschen; er ist gutmütig, leicht beeinflussbar, hat Hemmungen und seelische Verstimmungen; er ist willensschwach und lebensmüde und von melancholischem Temperament. Sein Verhalten in der Strafanstalt ist ernst und verständig. In seiner Arbeit war er fleissig, gewissenhaft, tüchtig und geschickt. Gegen Mitgefangene ist er anständig, zurückhaltend, aber ehrlich. Die Strafe hat er ruhig getragen.“ Jedoch wäre er erblich belastet und die Gefahr, dass er wieder in schlechte Gesellschaft gerate und sein altes Leben fortführe sei groß. „Die soziale Prognose wird man als zweifelhaft bezeichnen müssen.“
Im Juni und Juli 1934 beging Stemmer erneut eine Reihe von Straftaten. Wieder hatte er Freunde bestohlen und sie zudem mit falschen Anschuldigungen überzogen, was ihm 1 Jahr 5 Monate Gefängnis einbrachte. Ein Fahrraddiebstahl im Januar 1936 wurde mit eineinhalb Jahren Gefängnis geahndet.
Image
Erkennungsdienstliches Foto von Anton Stemmer, StAL E 356 d VI Bü 353
Am 1. April 1938 verurteilte das Amtsgericht Leutkirch Stemmer wegen Diebstahls im Rückfall erstmalig zu einer Zuchthausstrafe (1 Jahr). In der Urteilsbegründung hieß es, der Angeklagte habe ohne Not gestohlen. Er war fest angestellt beim Bauern Mösle, der ihn als Arbeitskraft sehr schätzte, mit für einen Knecht sehr guter Bezahlung. Er sei lediglich wieder seinem "Hang zum Stehlen" unterlegen, als er die günstige Gelegenheit sah, aus dem Täschchen seiner Arbeitskollegin Geld zu entwenden. Weil sie geistig etwas eingeschränkt sei, hatte er darauf gebaut, der Diebstahl, etwa ein Monatslohn, werde unentdeckt bleiben. Der zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alte Angeklagte habe über sieben Jahre seines Lebens im Gefängnis zugebracht. Obgleich er das letzte Mal wegen Fahrraddiebstahls zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt worden sei, habe er sich 7 Monate nach Verbüßung der Strafe wieder an fremdem Eigentum vergriffen. Hier könnten nicht mehr mildernde Umstände zugebilligt werden. Da aber die „unheilvolle Veranlagung und Erziehung“ durch das Elternhaus zu berücksichtigen sei, habe man es bei der niedrigsten Zuchthausstrafe belassen. Am 22. März 1939 wurde er aus dem Zuchthaus entlassen.
Am 1. September 1939 stand er wegen Diebstahls im Rückfall erneut vor Gericht. Weil er anführte, immer wieder unter „Anfällen“ zu leiden, die von einer Gehirnerschütterung durch einen Sturz herrührten, wurde seine Zurechnungsfähigkeit geprüft. Der Gutachter Medizinalrat Dr. Müller vom Gesundheitsamt Ravensburg erklärte ihn aber für voll tatverantwortlich. Verstandesmäßig sei er durchschnittlich entwickelt, es bestehe allerdings eine auffallende Willensschwäche gegenüber „Antrieben zu verbrecherischen Handlungen“. Stemmer sei zwar Psychopath, aber nicht krank. Die Anfälle seien „hysterischer und nicht epileptischer Art“. Auch seien seine Selbstmordversuche lediglich als eine „theatralische Unternehmung“ zu verstehen. Daraufhin verurteilte das Landgericht Ravensburg Stemmer zu 1 Jahr 4 Monaten Zuchthaus, erkannte ihn zugleich auch als "gefährlichen Gewohnheitsverbrecher" nach § 20 des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB) und ordnete die anschließende Sicherungsverwahrung gemäß § 42e RStGB nach Haftende an. Aus der Urteilsbegründung: „Zusammengefasst ergibt sich, dass der Angeklagte, obwohl er erst 30 Jahre alt ist, schon beinahe 9 1/2 Jahre seines Lebens im Gefängnis oder Zuchthaus zubringen musste [...]. Diese Fülle von Straftaten trotz der Jugend des Angeklagten lässt sich nur so erklären, dass dem Angeklagten ein innerer Hang [Unterstreichung im Orig.) zu Verbrechen innewohnt. [...] Dies geht nicht nur aus der Zahl der Straftaten, sondern insbesondere daraus hervor, dass sich für seine Verfehlungen kein vernünftiger Grund finden lässt [...]. Insbesondere fällt auf, dass der Angeklagte nie aus Gründen der Not gehandelt hat, denn in den kurzen Zeiträumen zwischen den Entlassungen aus der Strafhaft und der nächsten Tat hatte er meist Arbeit als Dienstknecht bei Bauern, soweit er es nicht freiwillig hervorzog [sic], ein unstetes Wanderleben zu führen. Wenn der Angeklagte gestohlen hat, hat er nie Gegenstände entwendet, die er zur Befriedigung eines augenblicklichen Bedürfnisses dringend gebraucht hätte, wie z.B. Lebensmittel. Im Gegenteil vergriff er sich sogar an Dingen, die er sicherlich nicht brauchen konnte, wenn er z.B. SA-Ausrüstungsgegenstände an sich nahm, ohne dass er der SA angehörte oder auch nur Aussicht hatte aufgenommen zu werden. Die hemmungslose Ergebenheit gegenüber seinem verbrecherischen Trieb ließ ihn auf die Person des Geschädigten keinerlei Rücksicht nehmen, auch wenn er zu ihr in einem nahen Verhältnis stand. [... ] Das völlige Unterworfensein des Angeklagten unter seinen verbrecherischen Hang ergibt sich aber insbesondere aus den kurzen Abständen, in denen der Angeklagte jeweils rückfällig wurde. [...] “ Aus all dem habe die Strafkammer die Überzeugung gewonnen, dass Stemmer ein Gewohnheitsverbrecher sei. Nachdem die bisherigen harten Strafen keine Wirkung gezeigt hätten, wäre davon auszugehen, dass er weiterhin Straftaten begehen würde, damit eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bestehe. Daher sei die Sicherungsverwahrung nach § 42e anzuordnen.
Nachdem die Zuchthausstrafe abgebüßt war, wurde Anton Stemmer in die Sicherungsanstalt (eine Abteilung im Gefängnis, in die die Sicherungsverwahrten nach Strafverbüßung in den Maßregelvollzug überführt wurden) Schwäbisch Hall verlegt. Von dort kam er in einem Transport mit 66 weiteren Sicherungsverwahrten, darunter auch etlichen forensischen Patienten, am 23. März 1944 in das Konzentrationslager Mauthausen.1 Dort registrierte man ihn als Sicherungsverwahrten ("SV") und er erhielt die Häftlingsnummer 59329. Schon am 9. April 1944 ging es für ihn, innerhalb des KZ Mauthausen-Komplexes, weiter in das KZ Ebensee am Traunsee. Dort wurden die Häftlinge überwiegend beim Bau unterirdischer Anlagen für die Raketenentwicklung und weitere Rüstungsproduktion eingesetzt.
Sein Name findet sich auf einer Liste der aus dem KZ Ebensee befreiten Häftlinge, demnach hat Anton Stemmer die Befreiung erlebt. Danach verliert sich jedoch seine Spur. Über seinen weiteren Lebensweg konnten wir nichts in Erfahrung bringen.
Die Markierung auf der Übersichtskarte zeigt Anton Stemmers Geburtsort Rot an der Rot.
Im September 1942 vereinbarte Reichsjustizminister Otto Georg Thierack mit dem Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler die schubweise Auslieferung aller Sicherungsverwahrten, die bisher der Justiz unterstanden und in den Sicherungsanstalten einsaßen, an die Polizei (nur Gestapo oder Kripo konnten, über Antrag beim Reichsicherheitshauptamt, KZ-Einweisungen vornehmen). In den Konzentrationslagern sollten sie - wie es explizit hieß - der „Vernichtung durch Arbeit“ preisgegeben werden.
Quellen
ITS Digital Archive, Arolsen Archives 1.1.26.3 Individuelle Häftlingsunterlagen Männer KL Mauthausen, Anton Stemmer Doc ID: 1304433
Staatsarchiv Ludwigsburg E 356 d V Bü 2028, Bü 2606, Bü 2892 E 356 d VI Bü 353