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Ernst Reissing (1904 - 1940)

„... gebeten, ihren Mann wieder ins KZ zu schaffen“

19.04.1933 - 04.08.1933 KZ Heuberg
09.04.1937 KZ Dachau
29.09.1939 KZ Mauthausen
27.01.1940 gestorben im KZ Mauthausen

Ernst Reissing wurde am 21. Oktober 1904 in Bernhausen bei Stuttgart geboren und evangelisch getauft. Die Eltern waren Friedrich Reissing und seine Ehefrau Maria. Von Beruf war Ernst Reissing Gipser und Bauarbeiter. Er war bei wechselnden Arbeitgebern tätig, des öfteren bei der Gemeinde Bernhausen, zuletzt arbeitete er als Tagelöhner bei der Bauhütte Schwaben, soziale Baugesellschaft mbH und der Baufirma Gaiser. Er war verheiratet mit Jakobine, geborene Ritter (Jahrgang 1902), und wohnte in Bernhausen in der Burgstraße 24. Reissing hatte zwei 1926 und 1928 geborene Töchter.

Ernst Reissing war aktives Mitglied der Kommunistischen Partei (KPD). Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde er als politischer Gegner am 19. April 1933 verhaftet und in das württembergische Konzentrationslager auf dem Heuberg bei Stetten am Kalten Markt verbracht. Dort wurde er am 4. August 1933 (nach anderen Angaben am 12. September 1933) wieder in die Freiheit entlassen. Die Haftentlassung soll angeblich aufgrund der Bemühungen des Vaters und der Vermittlung des Bernhausener Bürgermeisters erfolgt sein.1

Am 12. Januar 1937 wurde Ernst Reissing an seinem Heimatort erneut verhaftet. Nach späteren Angaben seines kommunistischen Parteifreundes Georg Auch war man zwei Tage zuvor sonntags im Gasthaus zur Sonne zusammengesessen, wo Reissing sich mit lauter Stimme politisch geäußert habe. Über die wahren Hintergründe seiner Verhaftung kam allerdings erst zwei Jahrzehnte später Näheres an den Tag. Reissing wurde vom örtlichen Gendarmeriemeister zur Dienststelle der Gestapo nach Stuttgart gebracht. Er kam in das Polizeigefängnis Welzheim, von wo er nach etwa vier Wochen am 9. April 1937 ins Konzentrationslager Dachau überstellt wurde. In Dachau erhielt er die Häftlingsnummer 12015 mit der Kategorie „Sch 2xKL“ (Schutzhäftling zum zweiten Mal im KZ) und wurde der Stube 1 im Häftlingsblock 19 zugewiesen. Er kam im Februar 1939 drei Tage in Kommandanturarrest2 und musste die gleiche Tortur nochmals die ungewöhnlich lange Zeit vom 3. März bis zum 14. April 1939 erdulden.

Im Zusammenhang mit der zeitweiligen Umnutzung des Dachauer Lagers für den Aufbau einer fronteinsatzfähigen SS-Division „Totenkopf“ kam er mit einem 1.600 Häftlinge umfassenden Sammeltransport am 29. September 1939 in das Konzentrationslager Mauthausen. Hier starb Ernst Reissing am 24. Januar 1940 im Alter von 35 Jahren. Die offizielle – in der Regel fingierte – Todesursache lautete: „Herz- u. Kreislaufschwäche infolge Grippe“.

Viele Jahre vergingen, bis seine Witwe, die mittlerweile wieder geheiratet und den Familiennamen Kopp angenommen hatte, sich um Wiedergutmachungsleistungen bemühte. Da die Termine für die Anmeldung von Wiedergutmachungsansprüchen mittlerweile abgelaufen waren, beantragte die Frau am 20. Juli 1958 eine sogenannte „Wiedereinsetzung in den alten Stand“, da sie die Fristen wegen Krankheit nicht habe einhalten können und außerdem ihr Wohnort Simmisweiler (Kreis Aalen) so weltabgeschieden gelegen sei, dass sie von den aktuellen wiedergutmachungsrechtlichen Bestimmungen nichts erfahren habe. Sie beauftragte die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) in Stuttgart, ihre Ansprüche zu vertreten. Was diese auch tat, obwohl die Begründung der Frau für ihre späte Antragstellung nicht so recht überzeugen konnte. Die VVN-Mitarbeiter Alfred Hausser und namentlich auch Bruno Lindner nahmen sich engagiert der Sache an – bis diese eine überraschende Wende zu nehmen begann: es meldete sich die Witwe des Georg Auch (mit welchem Reissing seinerzeit in Verbindung gestanden hatte) bei der VVN in Stuttgart und gab dort zu Protokoll: Frau Kopp habe ihren damaligen Mann ins KZ gebracht, sie habe den damaligen Bürgermeister so lange bedrängt, bis sich eine Gelegenheit zur Verhaftung geboten habe. Zeuge dieser Angaben sei der damalige Polizist, der Reissing habe in Haft nehmen müssen. Dieser ungeheuerlich anmutenden Aussage wollte man zunächst kein Vertrauen schenken - in der entsprechenden VVN-Aktennotiz wird die Frau bezeichnenderweise denn gar als „zanksüchtig“ abgewertet - doch wollte man der Sache gleichwohl nachgehen, weil es sich bei ihr schließlich um die Frau eines verstorbenen NS-Verfolgten handelte.

Man erkundigte sich daraufhin bei dem seinerzeitigen Gendarmeriemeister in Bernhausen, Heinrich Metzger3, und dieser stellte in seinem Antwortschreiben vom 2. September 1958 an die VVN die Umstände der Festnahme des Ernst Reissing wie folgt dar:

„Im Januar 1937 kam (...) die Ehefrau des Reissing auf mein Dienstzimmer und hat mich gebeten ihren Mann wieder ins KZ zu schaffen. Auf Vorhalt warum das sein soll, gab sie an: 'Ich halte es nicht mehr aus bei ihm, ich muss ins Geschäft und arbeiten, mein Mann arbeitet nicht, das Geld welches ich ihm geben muss, versauft er und obendrein bekomme ich noch Schläge.' Ich sagte der Frau Reissing, dass ich in dieser Sache nichts machen kann, da müsse sie zum Bürgermeister gehen. Mit Frau Reissing ging ich dann zum Bürgermeister und habe die Sache vorgetragen. Bürgermeister Blanz4 sagte nun zu Frau Reissing: 'Ihren Mann können wir nur wieder ins KZ schaffen, wenn Sie einen schriftlichen Antrag stellen, auf Einweisung Ihres Mannes ins KZ, ebenso muss der Vater Ihres Mannes den Antrag unterschreiben.'Bürgermeister Blanz hat nun einen entsprechenden Antrag aufgesetzt, welchen Frau Reissing unterschrieben hat.
Blanz hat mich dann beauftragt, den Antrag auch den Vater des Reissing unterschreiben zu lassen. Der inzwischen verstorbene Vater des Reissing hat den Antrag ebenfalls unterschrieben. Nun bekam ich den Auftrag von Bürgermeister Blanz den Reissing festzunehmen und dem Landrat des damaligen Kreis Stuttgart-Amt in Stuttgart vorzuführen.5 Nach einem Verhör durch den Landrat wurde Reissing mir wieder übergeben mit dem Auftrag, denselben der Geheimen Staatspolizei vorzuführen. Reissing wurde dann von mir der Gestapo vorgeführt.
Heinrich Metzger
Meister der Gend.a.D.“

Ein gutes halbes Jahr nach dieser Auskunft des früheren Gendarmeriemeisters schloss die VVN den Fall Reissing endgültig ab. Am 13. April 1959 teilte der VVN-Vertreter Bruno Lindner der Reissing-Witwe Jakobine Kopp Folgendes mit:

"Wir haben auf Ihre Veranlassung zur Vertretung von Wiedergutmachungsansprüchen Vollmacht übernommen. Dies geschah unter der Voraussetzung, dass Sie zur Stellung solcher Ansprüche berechtigt sind. Nunmehr steht aber fest, dass Sie uns verschwiegen haben, dass Sie selbst im Januar 1937 veranlassten, dass Ihr damaliger Ehemann verhaftet wurde, in Schutzhaft kam und dann am 27.1.1940 im Konzentrationslager Mauthausen umgekommen ist.
Wir müssen es als eine Unverfrorenheit bezeichnen, uns unter diesen Umständen die Übernahme einer Vollmacht zuzumuten. Wir werden dem Landesamt [für die Wiedergutmachung] entsprechende Mitteilung zugehen lassen und teilen Ihnen gleichzeitig mit, dass wir keine Rückantwort wünschen".

Die entsprechende Mitteilung seitens der VVN erging noch am selben Tag an das Landesamt für die Wiedergutmachung in Stuttgart. Dieses beschränkte sich seinerseits jedoch darauf, den Wiedergutmachungsantrag allein aus formalen Gründen am 9. Juni 1959 wegen Fristüberschreitung bei der Antragstellung zurückzuweisen.

Die Markierung auf der Übersichtskarte zeigt Ernst Reissings Wohnadresse: Bernhausen (Filderstadt), Burgstraße 24.

 

  • 1

    Der damalige Bürgermeister Theophil Bosler wurde 1934 durch die NS-Regierung seines Amtes enthoben.

  • 2

    Im sogenannten „Bunker“ wurden im KZ verschärfte Strafmaßnahmen vollzogen.

  • 3

    Der am 1.12.1891 in Bernhausen geborene Heinrich Metzger war 1923-1945 Gendarmeriemeister in Bernhausen. In seinem Spruchkammerverfahren nach dem Krieg wurde er als „Mitläufer“ eingestuft. Das Verfahren wurde per Weihnachtsamnestie 1947 eingestellt.

  • 4

    Der am 2.6.1892 in Heidenheim an der Brenz geborene Heinrich Blanz war 1907-1934 Justizinspektor beim Landgericht Ellwangen und 1934-1945 Bürgermeister der Gemeinde Bernhausen. Nach dem Krieg wurde er am 10. September 1945 in Esslingen festgenommen und interniert. Blanz war NSDAP-Ortsgruppenleiter und Vertrauensmann des Sicherheitsdienstes SD (NS-Geheimdienst). In Blanz' Spruchkammerfahren nach dem Krieg blieb die unwahre Behauptung seines Verteidigers unwidersprochen: "In Bernhausen ist kein einziger Fall bekannt geworden, dass einer verhaftet worden ist. Es ist keine Denunziation vorgekommen." Am 5.3.1946 wurde Blanz als "Minderbelasteter eingestuft (StAL EL 902/6 Bü 25602). Er starb am 2. Dezember 1970.

  • 5

    Landrat in Stuttgart-Amt war seit 1926 der am 24.3.1874 in Backnang geborene Jurist Paul Hermann Niethammer. Im Zuge der nationalsozialistischen Verwaltungsreform von 1938 wurde das Amtsoberamt Stuttgart aufgehoben.

Quellen:

ITS Digital Archive, Arolsen Archives  
Doc.: 10734984 (Ernst Reissing) 
Doc.: 10262708 
Doc.: 131531244

VVN-Archiv Stuttgart 
D 3278 (Dank an Volger Kucher)

Staatsarchiv Ludwigsburg 
EL 350 I Bü 39008
EL 76 Bü 1585 (Heinrich Blanz)

Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg (DZOK): Häftlingsdatenbank

Wolfram Angerbauer (Red.): Die Amtsvorsteher der Oberämter, Bezirksämter und Landratsämter in Baden-Württemberg 1810 bis 1972. Stuttgart 1996, S. 430 (zu Paul Niethammer).

 

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