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Otto Wahl (1910 - 1997)

Kommunist; Vorstand der westdeutschen Lagergemeinschaft Mauthausen

09.10.1935 Verhaftung
12.04.1937 Zuchthaus Ludwigsburg
15.03.1938 Polizeigefängnis Welzheim
03.05.1938 KZ Dachau
29.09.1939 KZ Mauthausen
08.04.1945 formelle Entlassung aus dem KZ Mauthausen

Jugend
Kommunist
Konzentrationslager
„SS-Bataillon Ziereis“
Traumatisierung
Wiedergutmachung
Aktivitäten nach dem Krieg

Lagergemeinschaft Mauthausen

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Wahl, Otto aus mks brosch

 

Jugend

Otto Wahl wurde am 23. Juni 1910 in Rohracker (damals Oberamt Cannstatt, heute ein Stuttgarter Stadtteil) geboren. Der Vater war der 1874 geborene Fabrikarbeiter und spätere selbständige Landschaftsgärtner, Wengerter und Trockenmaurer Gottlob Wahl. Die Mutter war die 1878 geborene Hausfrau Luise, geborene Krämer. Otto kam als viertes von fünf Kindern zur Welt. Bruder Paul (geb. 1906) war ebenfalls ein Opfer des NS-Terrors. Er durchlief die Konzentrationslager Dachau, Mauthausen und Stutthoff, wo er Mitte 1944 zum Kriegsdienst entlassen wurde. Nach Angaben von Angehörigen ist er bei Gefechten auf dem Gebiet der späteren Tschechoslowakei gefallen. Bruder Ernst Wahl (geb. 1914) fiel ebenfalls auf dem Schlachtfeld. Der dritte Bruder, Gerhard, starb infolge eines Unfalls. Überlebt hat nur die Schwester, eine Fabrikarbeiterin. Die innerfamiliären Verhältnisse waren nicht immer harmonisch - nach Otto Wahls Angaben soll „mehr Streit als Friede“ geherrscht haben. Otto machte nach siebenjährigem Besuch der örtlichen Volksschule eine Lehre als Karosserieschlosser, die er mit der Gesellenprüfung abschloss, und war anschließend berufstätig. 1931 wurde er arbeitslos und begab sich, unterstützt von seiner Familie, neun Monate auf Wanderschaft in Frankreich und Italien. Danach war er bis zu seiner Verhaftung im Oktober 1935 bei der Firma Siemens-Schuckertwerke (SSW) in Stuttgart als Schlosser beschäftigt.

Kommunist

In Otto Wahls Heimatdorf Rohracker hatten sich die Organisationen der politisch links orientierten Arbeiterinnen und Arbeiter bereits vor dem Ersten Weltkrieg fest etabliert. Nach der Novemberrevolution 1919 votierten über 64 Prozent der Wählerinnen und -wähler für die linken Arbeiterparteien SPD und USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands). Rohracker blieb auch in der Folgezeit eine Hochburg der linken Arbeiterparteien. Im November 1932 erhielt die KPD dort 45,6 und die SPD 20,6 Prozent der Stimmen.

Otto Wahl trat als Sechzehnjähriger dem Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV) bei. Politisch orientierte er sich an der 1919 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und gründete 1926 eine Ortsgruppe des Kommunistischen Jugendverbands (KJVD). Auch engagierte er sich bei der Naturfreundejugend in Stuttgart. Wahl, der als guter Sportler allgemeines Ansehen genoss, blieb, seiner politischen Positionierung zum Trotz, Jugendleiter der Fußballabteilung des von der SPD dominierten Arbeiter-Turn und Sportvereins Jahn im benachbarten Hedelfingen - sehr zum Missfallen des von der KPD beherrschten Rohracker Turnerbundes. Jedoch verlief ein damals angestrengtes KPD-Ausschlussverfahren gegen Otto Wahl im Sande.

Als die KPD 1928 im Zuge der Übernahme der „Sozialfaschismusthese“ zum verstärkten Kampf gegen die SPD aufrief, kam es zur Gründung der Kommunistischen Partei Opposition (KPO), die diesen Kurs angesichts des Erstarkens der Nationalsozialisten nicht akzeptieren wollte. Die Mehrheit der Rohracker Ortsgruppe des KJVD, so auch Otto Wahl, stimmte ebenfalls gegen die Beschlüsse der KPD und wurde daraufhin aus der Partei ausgeschlossen. Auch die Halle des Turnerbundes durften die aus ihrer Partei verstoßenen Jungkommunisten fortan nicht mehr nutzen. Sie orientierten sich daraufhin an der in Stuttgart relativ starken KPO und gründeten eine Gruppe des neuen Jugendverbands „Kommunistische Jugend Opposition“ (KJO), welcher auch Otto Wahl angehörte.

Nach der NS-Machtübernahme 1933 begann die Phase der illegalen Tätigkeit der KPO. Ihre KJO-Jugendgruppe traf sich klandestin auf Wanderungen, verteilte im Bekanntenkreis Flugblätter und andere Schriften gegen den Nationalsozialismus, malte nächtens politische Parolen und sammelte Gelder für die illegale Organisation. Otto Wahl hielt die Verbindung zur Bezirkszentrale der KJO in Stuttgart.

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Wahl, Otto Abm. 79a
Otto Wahl (links) mit seinen KPO-Genossen Willi Ortlieb, Gotthilf Bodenhöfer und Eugen Zondller. Foto aus: Abmayr/Weitz S. 79
 

Er berichtete 1950 über das damalige Geschehen: „Ich habe nach 1933 zu einer Jugendgruppe gehört, die aus Sozialdemokraten, Reichsbannerleuten und Kommunisten bestand. Wir haben in dieser Gruppe Flugblätter verteilt, so u.a. auch Flugblätter, als das Arbeitsdienstgesetz herauskam. Bei Schülern in der Hoppenlauschule hat nun ein Lehrer solche Flugblätter gefunden und offenbar der Gestapo Anzeige erstattet [...]. Daraufhin wurde das Klassenzimmer abgesperrt und alles durchsucht. Bei einem Schüler wurde ein Tagebuch gefunden mit Namen. In diesem Tagebuch war auch mein Name. Daraufhin hat 1935 eine Hausdurchsuchung von der Gestapo bei mir stattgefunden, wobei alle meine Bücher mitgenommen wurden.“

Am 9. Oktober 1935 wurde er an seinem Arbeitsplatz bei den Siemens-Schuckertwerken verhaftet und in das Polizeigefängnis in der Stuttgarter Büchsenstraße eingeliefert. In der Zentrale der Politischen Polizei (Gestapo) „Hotel Silber“ wurde er von Kriminalkommissar Friedrich Keller vernommen und von diesem, nach Otto Wahls späterer Schilderung, auch körperlich misshandelt. Nach 14 Tagen kam er in das Untersuchungsgefängnis in der Archivstraße in Stuttgart. Im März 1937 wurde er zusammen mit 23 weiteren jungen Genossen im sogenannten KJO-Prozess wegen des „Verbrechens der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ angeklagt. Vor Gericht zeigte er sich geständig. Er sei durch Freunde in die Sache hineingezogen worden und habe leichtsinnigerweise nicht den Mut aufgebracht, damit aufzuhören. Gleichwohl verurteilte ihn das Oberlandesgericht Stuttgart am 12. April 1937 rechtskräftig zu zwei Jahren und fünf Monaten Zuchthaus. Die eineinhalbjährige Untersuchungshaft im Untersuchungsgefängnis in der Archivstraße in Stuttgart wurde auf die Strafe angerechnet.

Vom 12. April 1937 bis zum 12. März 1938 verbüßte er seine Reststrafe im Zuchthaus Ludwigsburg, wo er in der Küche arbeitete. Die Haftanstalt musste die Gestapo - Stapoleitstelle Stuttgart – über seine bevorstehende Entlassung informieren und gab bei dieser Gelegenheit folgende Beurteilung zu seiner Person ab: „Der Gefangene Wahl hat sich hier gut geführt. Er war wohl kein fanatischer, verbissener Kommunist, sondern ist mehr durch schlechte Kameraden – er war als guter Sportler Mitglied eines roten Sportvereins – in das falsche Fahrwasser hineingekommen. Zu seinen Gunsten spricht auch, dass er im Sommer 1934 von seinem staatsfeindlichen Treiben abgelassen hat, wenn dies auch in erster Linie auf den Tod des Haupträdelsführers [Eugen] Zondler zurückzuführen ist. Heute ist Wahl zweifellos ehrlich entschlossen, dem Kommunismus fernzubleiben; aber er neigt von Natur aus etwas zum ‚Krakeelen‘ und wird stets in Gefahr sein, sich zu den Unzufriedenen zu schlagen. Er hat eben seit seiner Schulentlassung in rein marxistischer Umgebung gelebt. Schutzhaft erscheint mir nicht veranlasst, wohl aber wäre eine Überwachung seines Umgangs, etwa durch den Ortsgruppenleiter seines Wohnorts zu empfehlen“.

Konzentrationslager

Die Gestapo zeigte sich von dieser Fürsprache für den zu Entlassenden wenig beeindruckt. Otto Wahl wurde  im direkten Anschluss an seine Strafhaft zur „Prüfung der Schutzhaftfrage“ ins Polizeigefängnis II in Stuttgart verschubt. Von dort kam er mit einem zwölf Häftlinge umfassenden Transport in das Gestapogefängnis in Welzheim, von wo er am 3. Mai 1938, in das Konzentrationslager Dachau in Bayern verbracht wurde. Die Überstellung erfolgte mit einem 13 Häftlinge umfassenden „Sondertransport“, wie es im entsprechenden Schreiben der Schutzhaftabteilung II D der Stuttgarter Gestapo an die Lagerkommandantur hieß.

In Dachau erhielt Otto Wahl die Häftlingsnummer 14063 mit der Kategorie „Sch. DR.“ (Schutzhaft Deutsches Reich). Untergebracht war er – wie auch beispielsweise der zeitgleich mit ihm eingelieferte Franz Paul Erath in Block 1/2. Er arbeitete im Lager als Schlosser und ist nach eigenem Bekunden selbst „verhältnismäßig günstig weggekommen“ und nicht geprügelt worden. Otto Wahl führte in Dachau zwei längere Gespräche mit dem späteren SPD-Parteivorsitzenden Kurt Schumacher (1895-1952) über die politische Zukunft nach dem erwarteten Sieg über den Nationalsozialismus. Die Diskussionen fanden im Bereich des Appellplatzes beim Hin- und Hergehen statt. Das Verhältnis der beiden scheint allerdings kühl geblieben zu sein. Rückblickend jedenfalls, im Jahr 1995, meinte Otto Wahl über den SPD-Mann: „Schumacher war kein Typ eines proletarischen Kumpels. Um ihn herum war so etwas wie ein Vakuum. Im Lager lief er meistens alleine umher - seltener mal mit dem einen, mal dem anderen Häftling. Erst 1938, als österreichische Sozialdemokraten nach Dachau kamen, hatte sich im Lager eine sozialdemokratische Gruppe gebildet. Es waren aber im Vergleich zu Kommunisten wenige Sozialdemokraten da, etwa im Verhältnis 500 zu 15 oder 100 zu 10.“

Wegen der temporären Umnutzung des Lagers Dachau für Ausbildungszwecke der SS kam Otto Wahl mit einem 1.600 Häftlinge umfassenden Sammeltransport am 29. September 1939 ins KZ Mauthausen. Otto Wahl: „Wir marschierten vom Lager zum Bahnhof Dachau und dort wurden wir in Güterwaggons verladen. Nach einer fast nicht enden wollenden Fahrt kamen wir gegen Mitternacht auf dem Bahnhof in Mauthausen an. Plötzlich wurden die Türen aufgerissen und wir wurden mit Fußtritten und Ochsenziemern von hereinstürmenden SS-Leuten hinausgeprügelt. Als wir in Viererreihen zu Hundertschaften zusammengeprügelt waren, begann ein Marsch von ungefähr einer halben Stunde durch den nächtlichen Ort Mauthausen. Am Ende des Dorfes ein Stück der Donau entlang, die dunkel, träg und scheinbar lautlos dahinfloss. Am Ende eines bewaldeten Tals mündete unser Marsch in einem vom fahlen Mondlicht beschienenen und schaurig wirkenden Steinbruch. Links und rechts begleitet von den mit Karabinern bewaffneten Wachmannschaften und den immer wieder auf die Häftlinge einschlagenden zur Kommandantur des Lagers gehörenden SS-Leuten. Ich ging ungefähr in der Mitte des Zuges. Links und rechts, hinter und vor mir gingen viele Kameraden, die ich zum Teil schon vor 1933 gekannt oder aber in Dachau kennengelernt hatte. 186 ungleiche Stufen führten nach oben. Am Eingang des Lagers blieb die Wachmannschaft zurück, das Konzentrationslager Mauthausen hinter dem elektrisch geladenen Stacheldraht, mit Maschinengewehrtürmen und von Wachposten im Abstand von 25 Meter hatte uns geschluckt. Dachau hatte uns ausgespien und Mauthausen gefressen.“

Otto Wahl wurde die Häftlingsnummer 1252 „Polit.D.R.“ (Politisch Deutsches Reich) zugeteilt und in Block 9 eingewiesen. Er beschrieb später die damaligen Verhältnisse in Mauthausen und wie er sich in diese einfand: „Auf engem Raum waren die Häftlinge vom Abendappell bis morgens zum Ausmarschieren der Arbeitskommandos zusammengepresst. Dann wurde die direkt um das Barackenlager gezogene sogenannte innere Postenkette durch die äußere, die sich um den gesamten Lagerbereich einschließlich des Steinbruchs erstreckte, aufgezogen. Alles war wie ein Ameisenhaufen, in dem Kapos mit braunen und grünen Winkeln [= Häftlinge der Kategorien „Asozial“ und „Berufsverbrecher“] wie die SS mit Prügel die Häftlinge zur Arbeit trieben“. Am zweiten Tag in Mauthausen wurden durch die Blockschreiber Autogenschweißer gesucht. „Wir überlegten hin und her und sagten uns schließlich, es sei auf jeden Fall besser, falls wir genommen werden, als im Steinbruch oder sonst irgendwo als Bauarbeiter arbeiten zu müssen. Elf Häftlinge standen am anderen Morgen am Turm, die dann auf die Baustelle geführt wurden, um eine Schweißprobe zu machen. [...] Unter Aufsicht von zwei Heizungsmonteuren, SA-Leute in Zivil aus Köln, die bisher in Ermangelung eines Häftlings, der schweißen konnte, diese Arbeit selbst verrichten mussten, wurde der Reihe nach von jedem an zwei aufeinandergestellten Rohren eine Schweißprobe verlangt. Wir hatten Glück. [...] Am anderen Morgen mussten wir mit dem sogenannten Heizungsbaukommando ausrücken. Fast alle anderen gingen in den Steinbruch zur Arbeit.“

Dass Otto Wahl aufgrund seiner technischen Qualifikation nicht im Steinbruch arbeiten musste, rettete ihm nach eigener Darstellung vermutlich das Leben. Spätestens seit Juni 1943 und bis zum 15. März 1945 arbeitete er als Facharbeiter in der KZ-Schlosserei als Autogenschweißer. Unterbrochen war diese Tätigkeit von einem zweimonatigen Aufenthalt im Krankenrevier wegen einer Rippenfellentzündung (Pleuritis exsudativa), die am 17. März 1944 mit einer Pleurapunktion behandelt wurde.

„SS-Bataillon Ziereis“

Am 23. März 1945 wurde er vom Hauptlager Mauthausen zur „Lagerpolizei“ des KZ-Außenlagers Amstetten abgestellt. Worin der auf seiner Häftlingskarteikarte vermerkte kurzzeitige Einsatz bei der Lagerpolizei konkret bestand, geht aus den verfügbaren Unterlagen nicht hervor. Jedoch ergibt sich aus dem zeitlichen Zusammenhang und der Identität der weiteren herangezogenen Häftlinge, dass es sich bei diesem Einsatz um eine vorbereitende Maßnahme zur Aufstellung einer SS-Kampfeinheit mit neu rekrutierten KZ-Häftlingen handelte. Otto Wahl bezeichnete diese Formation nach dem SS-Standartenführer und Kommandanten des KZ-Mauthausen Franz Xaver Ziereis (1905-1945) als „Ziereis-Bataillon“ [hierzu geplanter Extrabeitrag]. Die Lagerpolizei (bei der vermutlich die militärische Grundausbildung erfolgte), war generell ob ihrer hohen Gewaltbereitschaft berüchtigt und unter den Häftlingen gefürchtet. Am 3. April 1945 wurde Otto Wahl zusammen mit 37 weiteren reichsdeutschen Häftlingen, die mit ihm ebenfalls als „Lagerpolizei“ im KZ-Außenlager Amstetten eingesetzt waren, in das Stammlager Mauthausen rücküberstellt. Dort wurde er am 8. April zusammen mit weiteren Häftlingen formell aus der KZ-Haft entlassen und in die neu zusammengestellte SS-Kampfeinheit eingereiht. Die Betroffenen wurden eingekleidet, mit Waffen und Munition versehen und in Anwesenheit von Lagerführer Ziereis und der SS-Unterführer unter der Hakenkreuzfahne als neu hinzugekommene „Kameraden“ vereidigt. Auch wurde ihnen – wie Otto Wahl später berichtete - das SS-Blutgruppenzeichen am linken Oberarm eintätowiert.

Weitere Einzelheiten schilderte Otto Wahl im Jahr 1989. Demnach wurde das von Otto Wahl so genannte „Bataillon Ziereis“ nach der Ausbildungsphase „auseinandergerissen und in drei verschiedene Kompanien eingeteilt“, die an unterschiedlichen Orten militärisch eingesetzt wurden. Otto Wahl über seine Einheit: „Wir mussten in den Ennsauen an der Donau Stellungen ausbauen und wurden auch mit einigen Panzerfäusten bewaffnet. Zum Einsatz kamen wir nicht“. Im Namen des Internationalen Mauthausener Häftlingskomitees waren für die zur SS eingezogenen politischen (kommunistischen) Häftlinge Passierscheine ausgestellt worden, mit welchen sie zu den sowjetischen Truppen überlaufen sollten. Otto Wahl: „Diese Passierscheine, die von einem sowjetischen Oberst ausgestellt wurden, waren eine Sache, die nur streng konspirativ vor sich gehen konnte. Ich [...] bekam für meine Gruppe 5 solcher Scheine; was darauf stand, weiß ich nicht, denn es war in russischer Sprache und von Hand geschrieben“. Aus dieser späten Angabe Otto Wahls von 1989 lässt sich folgern, dass er innerhalb seiner SS-Einheit als Kommunist eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Offensichtlich war er im Lager in die KPD-Strukturen eingebunden und genoss trotz seiner früheren KPO-Mitgliedschaft zu jener Zeit das Vertrauen der Partei. Dass allerdings eingezogene Häftlinge tatsächlich zur Roten Armee übergelaufen sind, wie gelegentlich behauptet wurde, hielt Otto Wahl im Nachhinein für so gut wie ausgeschlossen: die Rote Armee war für die Häftlinge unerreichbar, stand diese doch noch am 5. Mai 1945 jenseits des von deutschen Kräften gehaltenen Gebietes mehr als 60 km entfernt im Osten von Mauthausen. In den beiden Folgetagen befand sich die Mehrheit der zur SS eingezogenen Häftlinge bereits in Freiheit oder in US-Kriegsgefangenschaft.

Vermutlich kam Otto Wahl ebenfalls in US-Kriegsgefangenschaft und wurde ebenso wie seine Schicksalsgenossen nach kurzer Zeit entlassen. Bereits in der zweiten Maihälfte 1945 konnte er in seine Heimat nach Stuttgart-Rohracker zurückkehren.

Traumatisierung

An den Folgen der KZ-Haft litt Otto Wahl psychisch für den Rest seines Lebens. In einem für das Landesamt für die Wiedergutmachung erstellten internistischen Gutachten des Stuttgarter Bürgerhospitals vom 26. Januar 1967 hieß es über ihn: „Der Antragsteller wirkt ernst, besonnen und etwas grüblerisch [ ...]. Wir hatten während der 5-tägigen Beobachtung den Eindruck einer depressiven Grundstimmung mit Anzeichen einer gewissen Resignation und Antriebsarmut.“ Man stellte fest, dass die depressive Verstimmung „wesentlich durch die anhaltende innere Beschäftigung mit den Erlebnissen im KZ unterhalten wird“.

Diesen Befund bestätigte ein nervenfachärztliches Gutachten des Bürgerhospitals vom 21. August 1969 (die folgenden Zitate stammen aus diesem Gutachten): „Der gesamte Bericht wurde durch wiederholte Tränenausbrüche des Untersuchten unterbrochen. [...] Als das KZ Mauthausen nach dem Tod der ehemals Dachauer Häftlinge weitgehend ausgestorben war, sei es durch Transporte aus Buchenwald und Dachau wieder aufgefüllt worden. Anlässlich der Besetzung Hollands sei ein großer Transport von Juden aus Holland nach Mauthausen gebracht worden, die nach tagelanger Fahrt ohne Nahrung und Flüssigkeitszufuhr in stark ausgetrocknetem Zustand [...] eingetroffen seien. [...] Der SS-Lagerleiter habe angesichts der zusammengetriebenen Juden in aller Öffentlichkeit erklärt, dass er von diesen in zwei Tagen niemanden mehr sehen wolle. Ein Großteil der Juden sei vor den Augen der politischen Häftlinge in den Steinbruch getrieben und eine 80m tief und steil herabfallende Wand heruntergestoßen worden. Überlebende Juden seien dann gezwungen worden, die vielfach noch lebenden Opfer mit gebrochenen Gliedern und eingeschlagenen Schädeldecken abzufahren. [...] Überlebende seien zum Teil in den elektrisch geladenen Stacheldraht der Umzäunungen getrieben worden, in denen ihre Leichen zu Dutzenden, allen Überlebenden sichtbar, hängen blieben. Auch öffentliche Massenerschießungen musste der Untersuchte in Mauthausen mit ansehen. Die erste Vergasungsaktion sei in Mauthausen nach dem Attentat auf Heydrich durchgeführt worden, und zwar seien tschechische Frauen und Kinder vergast worden, später noch zahllose andere Häftlinge. Die Todesart habe vielfach nach Nationalität gewechselt: Polen seien gewöhnlich aufgehängt worden, Russen dagegen erschossen, das schlimmste Ende sei Juden vorbehalten gewesen, man könne nur sagen ermordet.“

Wahl habe häufig nachts Alpdrücken und „ängstlich gefärbte Träume“ von der Art: „Immer auf der Flucht, ich verberge mich, finde keinen Ausweg“. Dabei begegne er aber keinen direkten Verfolgern. Die Erinnerung an bestimmte Personen sei im Lauf der Jahre blasser geworden, habe eher die Form eines allgemeinen Druckes angenommen: „Das Grauen, ein Schreien, ohne dass ein bestimmtes Wesen erkennbar ist, das drückt“. Wahl könne auch kleine Aufregungen schlecht verarbeiten, bekäme dann sofort Schmerzen im Oberbauch.

Nach seiner Stimmungslage befragt, antwortete Wahl, er habe ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern gehabt; lebe in einer glücklichen Ehe. Seinen Mitmenschen falle jedoch auf, dass er nicht mehr so gesellig sei wie früher. „In den letzten 10 Jahren sei er „menschenfremd“ geworden. Er müsse sich direkt zwingen, an Geselligkeit teilzunehmen, selbst dann, wenn er sich dabei im Kreise guter gesinnungsverwandter Freunde befinde. „Wenn er sonntags einmal am Sportplatz vorbeikomme und Bekannte auf sich zukommen sehe, sondere er sich gerne ab“.

„Nicht alle Lagererlebnisse seien deprimierend gewesen, es habe ja auch eine Kameradschaft unter Lebensgefahr gegeben. Er habe sich bemüht, die Erlebnisse der schrecklichen Jahre zu verarbeiten, treffe alljährlich auf internationalen Befreiungsfeiern Schicksalsgenossen. So verbindend das gemeinsam erlebte Schicksal auch sei, so könne der Untersuchte doch nur unter allergrößter Anstrengung einer größeren Zusammenkunft beiwohnen. So gehe es ihm selbst bei größeren Familienfeiern. Der Untersuchte geniere sich, weil er dann vielfach „heulen“ müsse. Das sei in letzter Zeit schlimmer geworden, er könne diese Gefühlsausbrüche nicht mehr beherrschen.“

Beurteilt wurde Wahl als eine syntone [emotional in Harmonie mit der Umgebung befindliche], affektiv warme Grundpersönlichkeit, „die mit seinem pyknischen Körperbau“ korreliere. Seine ruhige, sachliche Bereitschaft zur Mitarbeit habe zunächst die depressive Grundstimmung überdeckt, die aber bei Schilderung der Verfolgungserlebnisse zunehmend hervortrat. Diese schilderte er anfangs eher untertreibend; erst auf gezielte Nachfragen gab er, zunehmend erregter werdend, die grauenhaften Erlebnisse preis. Er habe diese Erlebnisse trotz günstiger Familienverhältnisse nie vollständig verarbeiten können. Die Stimmungslage sei deutlich depressiv, ohne größere Schwankungen. Aufregungen, auch freudiger Art, führten häufig zu einem affektiven Zusammenbruch. „Die Exploration musste wiederholt unterbrochen werden, weil die Erinnerung an die KZ-Erlebnisse zu von dem Untersuchten nicht mehr kontrollierbaren Tränenausbrüchen führte.“

„Schwerste persönliche Qual bestand für den emotional stark ansprechbaren Untersuchten darin, [...] der grausamen und qualvollen, meist öffentlich durchgeführten Vernichtung des überwiegenden Teils seiner Mithäftlinge zusehen zu müssen, wobei ihn, wie jeden anderen Häftling, jeden Tag das gleiche Los treffen konnte. Die Ungeheuerlichkeit und lange Dauer dieser extremen Belastungssituation vermochten zwar die Persönlichkeit des Herrn W. nicht zu zerstören, blieb aber nicht ohne noch heute andauernde Folgeerscheinungen in Gestalt einer chronischen depressiven Verstimmung, sowie in Gestalt einer chronischen Angstneurose. [...] Offenbar vermochte Herr W. auf Grund seiner emotional warmen Grundpersönlichkeit das Stadium einer schützenden Abstumpfung nie voll zu erreichen, sodass es bei ihm zu einer nachhaltigen Erlebnisreaktion in Form der jetzt noch bestehenden Angstneurose kam.“

Wiedergutmachung

Erste Wiedergutmachungsanträge und einen Antrag auf Gewährung einer Beihilfe stellte Otto Wahl im Jahr 1947. Am 18. August 1949 erging ein Bescheid der Landesbezirksstelle für Wiedergutmachung, in welchem 114 Monate politische Haft anerkannt wurden. Pro Haftmonat gab es 150.- DM, insgesamt also 17.100.- DM. Von dieser Summe wurden jedoch bisherige Beihilfen, egal ob sie in Geld oder Sachleistungen wie Möbel oder Kuraufenthalte geleistet worden waren, abgezogen.

Otto Wahl, dem die Stuttgarter kommunale Polizei am 21. September 1945 einen „KZ-Ausweis“ ausgestellt hatte, wurde von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) im Mai 1948 als „Verfolgter bzw. Geschädigter“ anerkannt. Das Hochverratsurteil von 1937 wurde durch den Generalstaatsanwalt mit Bescheid vom 17. November 1948 aufgehoben und aus dem Strafregister getilgt.

Als Otto Wahls vorzeitige formelle Haftentlassung nach dem Krieg bekannt wurde, warf dies Fragen auf. Nachdem die Landesbezirksstelle für die Wiedergutmachung Stuttgart vom Internationalen Suchdienst (ITS) in Arolsen eine diesbezügliche Auskunft erhalten hatte, sah Otto Wahl sich zu einer Stellungnahme gefordert. In seinem Schreiben vom 16. Mai 1950 an das Wiedergutmachungsamt legte er Wert auf die Feststellung, dass der „5. bzw. 7. Mai“ der offizielle Befreiungstag gewesen sei. In eigener Sache gab er an: „Im Monat März und April 1945 wurden alle deutschen Häftlinge, die mehr als 4 Jahre im Lager waren und gesund gewesen sind, darunter auch ich, in das sogen. Ziereis-Bataillon eingereiht [...]. In den Lagerakten wurden diese Häftlinge deshalb am 8.4.45 als entlassen geführt. Mit einer Entlassung hatte das aber in Wirklichkeit nichts zu tun. Alle diese Häftlinge wurden um das Lager herum zu allen möglichen Arbeiten eingesetzt und nur theoretisch an Waffen ausgebildet.“

Auf eine Nachfrage des Amtes für die Wiedergutmachung stellte die Staatsanwaltschaft am 13. Februar 1953 fest, dass an der Tatsache des Einsatzes Wahls bei dem fraglichen „Ziereis-Bataillon“ keine Zweifel bestünden. Was Otto Wahls Zurückhaltung bei dem Thema anbelangt, erscheint es nachvollziehbar, dass er als Kommunist vor dem Hintergrund des Kalten Krieges darauf bedacht sein musste, alles zu vermeiden, was Material für den Vorwurf hätte liefern können, er und weitere Parteigenossen hätten in irgendeiner Weise mit der SS gemeinsame Sache gemacht. Entsprechend versuchte er seine seinerzeitige Eingliederung in das „Ziereis -Bataillon“ mit dessen Nichtbeteiligung an Kampfhandlungen und einer damit verbundenen faktischen Folgenlosigkeit zu rechtfertigen.

Ein anderes, ganz spezielles Wiedergutmachungsproblem ergab sich aus der geographischen Lage Mauthausens als Deportationsort. Eigentlich hatten Deportierte nach § 141 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) Anspruch auf eine "Soforthilfe" in Höhe von 6.000 Deutsche Mark. Eine solche Soforthilfe war denn auch Otto Wahl per Urteil des Landgericht Stuttgart vom 5. September 1957 zuerkannt worden. Ein am 9. Januar 1959 folgendes Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart hob diese Entscheidung jedoch wieder auf. Begründung: maßgebend für den Begriff der Deportation sei "der Verlust der deutschen Heimat". Österreich habe jedoch nicht "außerhalb des geschlossenen deutschen Siedlungsgebiets" gelegen, daher könne die Inhaftierung in Mauthausen "nicht als Deportation betrachtet" werden. Daraufhin strengte Otto Wahl über den Rechtsanwalt der VVN stellvertretend für alle wiedergutmachungsberechtigten Mauthausenhäftlinge ein Musterverfahren an. Von dessen juristischer Aussichtslosigkeit waren die Beteiligten zwar überzeugt, doch sollte der Rechtsweg ausgeschöpft werden, um die Notwendigkeit der Novellierung der entsprechenden Bestimmung im BEG aufzuzeigen. Eine im Sinne der ehemaligen Mauthausenhäftlinge positive Regelung brachte dann das sogenannte BEG-Schlussgesetz vom 14. September 1965. Damit hatten nun endlich - mehr als zwanzig Jahre nach der Befreiung - ehemalige Mauthausenhäftlinge Anspruch auf "Soforthilfe". Vorausgesetzt, die Betroffenen galten amtlich als politisch, rassistisch oder religiös Verfolgte.

Ab 1982 musste sich Otto Wahl alljährlich bestätigen lassen, dass er noch am Leben sei. Gefordert war ein persönliches Erscheinen mit Ausweis vor der zuständigen Amtsstelle. Am 30. Januar 1992 erhielt der VVN-Landesvorsitzende Alfred Hausser eine positive amtliche Antwort auf seine Anfrage, ob bei Wahl eine Leidensverschlimmerung geltend gemacht werden könne. Ein hierfür erforderliches ärztliches Gutachten bestätigte eine Verschlimmerung des Magenleidens sowie eine Verschlimmerung des depressiven Verstimmungszustandes.

Aktivitäten nach dem Krieg
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Wahl, Otto KZ-Ausweis
Otto Wahls „KZ-Ausweis“ v. 21.9.1945. Entnommen aus: Abmayr/Weitz S. 89

Am 11. Mai 1945 hatte Otto Wahl von Mauthausen aus die Heimreise angetreten. Dass er von den Parteikommunisten als einer der ihren anerkannt war, zeigte sich auch darin, dass er bald nach seiner Rückkehr auf Bitten der KPD-Funktionäre Erwin Klein und Paul Graf ab Ende Mai im Arbeitsausschuss in Rohracker tätig wurde. Mit dieser Form der Selbsthilfeorganisation, die sich gerade in Stuttgart relativ stark entwickelte, suchte man den drängenden Alltagsnöten der Nachkriegszeit zu begegnen und mit dem Wiederaufbau zu beginnen. Vertreten in dem Arbeitsausschuss waren neben den Kommunisten auch Sozialdemokraten sowie Mitglieder der Deutschen Volkspartei und der CDU. Kurze Zeit später wechselte Otto Wahl in den Arbeitsausschuss im benachbarten Hedelfingen. Dort hatte zunächst ein „Kampfkomitee“ bestanden, dessen Leiter Ortsbürgermeister wurde, während weitere Mitglieder des Komitees von der US-Besatzungsmacht verhaftet wurden. Der danach neu konstituierte Arbeitsausschuss setzte sich ebenfalls parteipolitisch heterogen zusammen. Neben Otto Wahl waren Sozialdemokraten und sogar ein ehemaliges NSDAP-Mitglied vertreten. Anfang 1946 wurden die Stuttgarter Arbeitsausschüsse von der US-Militärregierung lizensiert, verloren jedoch bald an Bedeutung. Der Hedelfinger Arbeitsausschuss wurde im Februar 1948 aufgelöst.

Seit Jahresmitte 1946 bis 1956 war Wahl hauptamtlicher Parteiangestellter bei der KPD. Dort lernte er Annemarie Stotz kennen, die er 1948 heiratete. Aus der Ehe gingen eine 1949 geborene Tochter hervor sowie drei Söhne, die 1951, 1955 und 1962 zur Welt kamen.

Eine erneute Mitgliedschaft in der KPO kam für ihn nicht mehr in Frage. Es sollte nur noch eine Organisation für alle Kommunistinnen und Kommunisten geben. Wenige Jahre später geriet er allerdings erneut in Konflikt mit der Partei und wurde zu Beginn der 1950er Jahre all seiner politischen Funktionen enthoben. Er blieb dennoch bis zum KPD-Verbot vom 17. August 1956 Parteimitglied und allem Anschein nach auch Parteiangestellter. In der Folgezeit betätigte er sich als Angestellter im Gebrauchtwarenhandel, wo er für den Verkehr mit Firmen und Behörden zuständig war. Seit 1963 bezog er eine Berufsunfähigkeitsrente und arbeitete halbtags in der Autowerkstatt „Auto-Ludwig“ in der Stuttgarter Hauptstätterstraße 30. In den 1960er Jahren engagierte er sich bei der Demokratischen Linken (DL), einer 1967 gegründeten und in Baden-Württemberg aktiven Wahlpartei, die aber nur kurze Zeit existierte. Später wurde er Mitglied der 1968 konstituierten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), die als eine legale Nachfolgeorganisation der verbotenen KPD gilt. Doch übertrug ihm seine Partei keine hauptamtlichen Funktionen mehr. Daneben blieb er Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN).

Lagergemeinschaft Mauthausen

Spätestens 1948 setzten Bemühungen ein, ehemalige deutsche Mauthausenhäftlinge beziehungsweise ihre Hinterbliebenen ausfindig zu machen und entsprechende Kontakte zu knüpfen. Eine wesentliche Initiative ging von ehemaligen Mauthausen-Häftlingen aus, die Mitglieder der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands in der sowjetischen Besatzungszone) waren oder dieser zumindest nahestanden.

Am 19. Juni 1948 wandte sich ein gewisser A. Reinert von der Redaktion des „Vorwärts“, einer vom Bezirksverband Groß-Berlin der SED in Ostberlin herausgegebenen Wochenzeitschrift, an den früheren Mauthausen-Häftling Otto Wisst in Wendlingen. Dabei nahm er Bezug auf eine kürzlich stattgefundene Zusammenkunft von etwa zwanzig ehemaligen Mauthausen-Häftlingen in Potsdam. Dort sei die „Notwendigkeit der Zusammenfassung aller Mauthausener“ festgestellt und ein vorläufiger Ausschuss mit Franz Dahlem (1892-1981), Bruno Leuschner (1910-1965), Hermann Streit (1910-1965), Herbert Heerklotz und A. Reinert gebildet worden. Die Ziele waren hochgesteckt: „nach Rücksprache mit der VVN erscheint es zweckmäßig, durch Aufnahme persönlicher Beziehungen mit allen Kameraden in Verbindung zu treten, deren Adressen uns zugänglich sind“. Deshalb bat man den Ansprechpartner Otto Wisst, in Württemberg-Baden „möglichst alle dort befindlichen Mauthausener wenigstens adressenmäßig festzustellen“. Betont wurde die Bedeutung der Mauthausener Lagergemeinschaft mit dem Hinweis darauf, dass im Präsidium der FIAPP (Fédération Internationale des Anciens Prisionniers Politiques), in welche die VVN aufgenommen worden war, allein vier ehemalige Mauthausener saßen. In der FIAPP hatten sich 1947 Widerstandskämpfer aus 17 Ländern zusammengefunden; 1948 wurden auch die Antifaschisten aus Deutschland und Österreich aufgenommen. Aus der FIAPP ging 1951 die FIR (Fédération Internationale des Résistants – Association Antifasciste) als internationale Dachorganisation hervor.

Die Sammlung von Adressen bekannter ehemaliger Mauthausen-Häftlinge aus Württemberg-Baden sollte eigentlich bis zu der großen internationalen Gedächtnisfeier für die Opfer des Faschismus am 12. September 1948 in Berlin abgeschlossen sein. Doch die Sache zog sich hin. Nun war es der ehemalige Mauthausen-Häftling und damalige KPD-Funktionär Nikolaus Riedmüller (1915-1988), der sich an Otto Wisst als Ansprechpartner wandte. Riedmüller hatte am Rande der besagten internationalen Gedächtnisfeier auch an einer Besprechung ehemaliger Mauthausenhäftlinge teilgenommen. Die Österreicher kündigten an, dass in den nächsten Jahren eine Gedächtniskundgebung in Mauthausen stattfinden solle. Da Riedmüller der einzige Vertreter aus der US-Zone war, wurde er ersucht, die Verbindung der ehemaligen Mauthausener in der US-Zone herzustellen. Riedmüller versuchte wegen Arbeitsüberlastung die ihm erteilte Aufgabe wiederum an Otto Wisst zu delegieren. Die Aufgaben seien Feststellung der Mauthausenkameraden aus Württemberg-Baden und ihrer Adressen, Erstellung von Totenlisten sowie die Sammlung von Fotos.

Otto Wisst sah sich zunächst in der Pflicht. So bat er beispielsweise Alfred Hausser von der Stuttgarter Landesstelle der VVN im Dezember 1948, alle ehemaligen Mithäftlinge auf ein am 5. Mai des folgenden Jahres geplantes Mauthausener-Treffen hinzuweisen. Doch schon im Januar 1949 warf Otto Wisst das Handtuch. Er übergab sein Amt und den bisher angefallenen Schriftwechsel betreffs Bildung einer Arbeitsgemeinschaft der ehemaligen Mauthausener Häftlinge der VVN, „da er aus technischen und zeitlichen Gründen nicht in der Lage sei, den erteilten Auftrag [!] für das Land Württemberg-Baden durchzuführen“. Man habe versucht, einen Kameraden in Stuttgart zu finden, der diese Aufgabe übernehmen könne. Dabei war man nun auf Otto Wahl verfallen. Indes: „der einzige Kamerad mit einer längeren Lagerzeit in Mauthausen, Otto Wahl, ist aber leider auch so beansprucht, dass er diesen Auftrag abgelehnt hat. Wahls Weigerung dürfte nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Konflikt mit seiner Partei zu sehen sein, welcher dann ja zu seiner Funktionsenthebung führte. Angesichts dieser Sachlage sah die VVN sich zunächst einmal gezwungen, „die wichtigsten Aufgaben“ selber zu übernehmen. Das Projekt der Errichtung einer württembergisch-badischen oder gar westdeutschen Lagergemeinschaft war damit in unbestimmte Ferne gerückt. Offenbar gab es im Umkreis der Stuttgarter VVN niemanden, der bereit war, das von ostdeutschen Kommunisten angeregte Vorhaben weiter zu verfolgen.

Vor diesem Hintergrund ist es fast schon erstaunlich, dass es schließlich doch noch – allerdings erst ein Jahrzehnt nach der Befreiung – zur Gründung der westdeutschen Lagergemeinschaft kam. Der Anstoß hierzu sollte jetzt allerdings von anderer Seite kommen. Im Zusammenhang mit der Befreiungsfeier in Mauthausen 1953, bei der auch Otto Wahl als westdeutscher Delegierter vertreten war, konstituierte sich am 9. Mai 1953 im österreichischen Sankt Pölten das Internationale Mauthausen-Komitee (Comité International de Mauthausen, CIM). In diesem sollten sich – in Anlehnung an das Internationale Komitee der Häftlinge in der Endphase des KZs - Häftlinge aus verschiedenen Ländern gemeinsam organisieren. Zum Vorsitzenden wurde Gilbert Dreyfus (Frankreich) und zum Generalsekretär Heinz Dürmayer (Österreich) gewählt. Bei der Gründungskonferenz war Otto Wahl ebenfalls zugegen. Die wesentlichen Impulse für die Organisierung westdeutscher ehemaliger Häftlinge scheinen – anders als beim ersten Anlauf Ende der 1940er-Jahre - aus den Reihen der französischen Delegation gekommen zu sein. Otto Wahl jedenfalls vertrat im Nachhinein dezidiert die Ansicht, „dass erst auf Initiative der französischen Kameraden in der Bundesrepublik eine Lagergemeinschaft gebildet“ worden sei. Auch dürfte das drohende KPD-Verbot eine Rolle gespielt haben.

Am 13. März 1954 fand in Stuttgart eine erste vorbereitende Zusammenkunft statt. Am Samstag, den 12. November 1955 war es schließlich so weit. Im Beisein des ehemaligen Mauthausen-Häftlings Émile Valley (1910-1999) aus Paris, Generalsekretär der französischen Vereinigung „L’Amicale des déportés politiques de la Résistance de Mauthausen“ (vgl. Beitag Lagergemeinschaften) und Mitglied der Exekutivkommission des Internationalen Mauthausen Komitees (CIM), fand in Stuttgart die Gründungsversammlung der Lagergemeinschaft Mauthausen in der Bundesrepublik statt. Von einer Organisierung auf Länderebene war nun nicht mehr die Rede. Auch ein gesamtnationaler Zusammenschluss stand vor dem Hintergrund der vollzogenen deutschen Teilung sowie unausgesprochener politischer Differenzen bei den Beteiligten nun nicht mehr zur Debatte. Anwesend bei der konstituierenden Sitzung der westdeutschen Lagergemeinschaft waren 29 „Kameradinnen und Kameraden“.

Als Zweck und Ziel der Lagergemeinschaft verständigte man sich auf folgende Punkte:
„1. Pflege der Kameradschaft
2. Gestaltung des ehemaligen Lagers Mauthausen für eine Mahn- und Gedenkstätte
3. Aufklärung von Schicksalen verschollener Häftlinge
4. Ermittlung begangener und noch nicht gesühnter Verbrechen im KL Mauthausen
5. Aufrechterhaltung der internationalen Verbundenheit unter den ehemaligen Häftlingen und gemeinsame internationale Lagertreffen
6. Wahrung des Gedächtnisses unserer Toten
7. Überlieferung der Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen“.

Als Präsident der Lagergemeinschaft wurde Otto Wahl gewählt (später wurde er auch als "Sprecher der Lagergemeinschaft Mauthausen in der BRD" bezeichnet). Zum Geschäftsführer wurde Bruno Lindner bestimmt. Unter den Gründungs- und Präsidiumsmitgliedern waren neben anderen Alfred Grözinger und Otto Wisst. Da die SPD beschlossen hatte, dass die Mitgliedschaft in der Partei und der VVN unvereinbar ist, war eine Mitarbeit von Sozialdemokraten schon deshalb nicht möglich. Wie groß die Distanz der beiden Parteien war und wie sehr der Antikommunismus der SPD ausgeprägt war, belegt beispielsweise ein SPD-Wahlslogan im Bundestagswahlkampf 1949. Damals hieß es »Wer KP wählt, wählt KZ!«. Zudem erschwerte der im Mai 1952 gestellte Antrag der Adenauer-Regierung auf ein Verbot der KPD politische Kontakte zur VVN. Auch scheint es zu keiner nennenswerten Beteiligung ehemaligen Mauthausen-Häftlingen an der Arbeit der Langergemeinschaft gekommen zu sein, die nicht politisch verfolgt waren. So blieb die Gruppe kommunistisch dominiert.

Gleichwohl vertrat Otto Wahl den Anspruch, dass die Lagergemeinschaft für „alle Kameraden“ da sei, wie er dies etwa in einem Schreiben an den ehemaligen Mauthausen-Häftling Willy Freymüller zum Ausdruck brachte. Freymüller, der von der Stuttgarter „KZ-Prüfstelle“ vom politisch Verfolgten zum Arbeitsverweigerer „herabgestuft" worden war, hatte sich bei der Lagergemeinschaft, an welche er zuvor allerdings nie herangetreten war, bitter darüber beklagt, dass diese für ihn nichts unternommen hatte. In seiner Antwort vom 28. März 1957 beteuerte Otto Wahl: „Wir interessieren uns für alle Kameraden und helfen Jedem, wenn es irgend möglich ist". Wer genau als „Kamerad“ galt und wer nicht, blieb dabei freilich etwas im Dunkeln. Kriterien für die Mitgliedschaft in der Lagergemeinschaft waren in ihrem Gründungsprotokoll nicht festgelegt worden. Man muss davon ausgehen, dass die Lagergemeinschaft sich stillschweigend wie selbstverständlich an den VVN-Prinzipien orientierte, nach welchen nur die aus „politischen, rassischen, weltanschaulichen und religiösen Gründen Verfolgten“ als unterstützungswürdig galten. Aus anderen Gründen ins KZ Eingewiesene, wie beispielsweise Arbeitsverweigerer, Homosexuelle, „Asoziale“ oder Kriminelle, blieben damit außen vor.

Es findet sich zu diesen Abgrenzungen auch eine bemerkenswerte Parallele auf familiärer Ebene. Sie betraf seinen Bruder Paul, der kein Kommunist war, und mit dem er persönlich gebrochen hatte. Paul Wahl war wie Otto in den Konzentrationslagern Dachau und Mauthausen interniert. Schließlich wurde er – als "asozial" stigmatisiert – aus dem KZ Stutthof zum Militärdienst entlassen. Angaben von Personen, die Otto Wahl gut kannten, deuten darauf hin, dass es Otte Wahl strikt vermied, den Namen seines Bruder überhaupt zu erwähnen oder über dessen Jahre langes Leiden in den Konznentrationslagern zu sprechen.

Repräsentativ für sämtliche oder auch nur für die Mehrzahl der ehemaligen westdeutschen Mauthausenhäftlinge war die westdeutsche Lagergemeinschaft jedenfalls keineswegs - was neben den (kommunistischen) politischen Präferenzen nicht zuletzt auch an der Abgrenzung gegenüber amtlich nicht als entschädungsberechtigt angesehenen Verfolgtengruppen gelegen haben mag. Darüber hinaus war es damals auch noch nicht gelungen, die ehemaligen Mauthausenhäftlinge aus Westdeutschland über bescheidene Ansätze hinaus zu erfassen und zu kontaktieren. Allein die Tatsache, dass es erst in der ersten Hälfte der 2020er Jahre mit der Datenbank der vorliegenden Website gelungen ist, mehr als 1.300 aus dem heutigen Baden-Württemberg stammende ehemalige Mauthausenhäftlinge – vor allem aufgrund neu zugänglichen Quellenmaterials - zu eruieren, mag die quantitative Dimension des Problems andeuten. Die rudimentär gebliebenen damaligen - und heute teilweise noch verfügbaren - Recherchen Otto Wahls und der Lagergemeinschaft bildeten gleichwohl einen ersten und wichtigen Ausgangspunkt für die jetzt zur Verfügung stehende Datenbank und die biografischen Angaben zu ehemaligen Mauthausen-Häftlingen.

Zu den ersten Aktivitäten der Lagergemeinschaft zählte die Herausgabe eines "Mitteilungsblattes ehemaliger Häftlinge und der Hinterbliebenen“, das bis ins Jahr 1984 mehr oder weniger regelmäßig erschienen ist. In der ersten Ausgabe wurde die Gründung der Lagergemeinschaft bekanntgegeben und angekündigt, dass im nächsten Jahr, dem 10. Jahrestag der Befreiung, gemeinsam mit Lagergemeinschaften anderer Länder ein großes internationales Mauthausen-Treffen stattfinden wird.“

Otto Wahl versuchte auch, mit sachdienlichen Detailinformationen einen Beitrag zur Verfolgung von NS-Verbrechern zu leisten. Am 23. August 1948 wandte er sich an den Oberkläger des Interniertenlagers Ludwigsburg, um diesem sein Wissen über einen ehemaligen SS-Führer „O. Beck“ mitzuteilen. Gemeint war offenbar Johann Georg Beck (1888-1967). Dieser war nach Auseinandersetzungen mit SS-Führern im KZ Buchenwald oder aufgrund von Trunkenheit unter Hausarrest gestellt und im Februar 1942 schließlich ins KZ Mauthausen verlegt worden. Dort wurde er als Sonderhäftling wegen Disziplinlosigkeit abseits des eigentlichen Lagerbetriebes unter Arrest gehalten. Wahl hatte persönlich beobachtet, wie dieser aus dem Lager in die SS-Kantine außerhalb und dann wieder in den Arrest zurückgebracht wurde. Seine Zellentür sei meist nicht abgeschlossen gewesen, so dass er sich im Arrestgebäude frei bewegen konnte. Später hätte er auch ohne Begleitung das Lager verlassen dürfen. Zu keiner Zeit habe er Häftlingskost zu essen bekommen, sondern wäre immer von der SS-Küche mit SS-Kost verpflegt worden. Von Beck ist bekannt, dass dieser zum 1. März 1943 als Stellvertretender Schutzhaftlagerführer und Stallmeister ins Mauthausen-Zwillingslager Gusen entsandt wurde, das er dann bei Kriegsende im Mai 1945 an die US-Armee übergab.

Am 7. Mai 1958 wandte sich Rudolf Wunderlich (1912-1988) vom „Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der Deutschen Demokratischen Republik“ an Otto Wahl bezüglich einer geplanten etwa 2 Meter langen und 1,80 Meter breiten Gedenktafel für die, wie es im Anschreiben hieß „deutschen Opfer in Mauthausen“. Da Otto Wahl gegen den ersten Textentwurf für die Tafel Bedenken geäußert hatte, schlug man nun in Ostberlin folgende Version vor: „Den deutschen Antifaschisten, die im Widerstand gegen die Barbarei des Faschismus und im Kampf gegen den verbrecherischen Hitlerkrieg ihr Leben gaben. Sie starben für die Sache des deutschen Volkes (...)“. Otto Wahl wurde um Zustimmung oder Abänderungsvorschläge gebeten. Die Gedenkplatte sollte, so der Plan, gemeinsam durch je eine Delegation aus der DDR und der BRD eingeweiht werden. Weitere Informationen zu dem Vorgang liegen uns noch nicht vor, auch nicht, ob die gesamtdeutsche Gedenktafel zustande kam. Unverkennbar bei dem Textvorschlag jedenfalls ist die Begrenzung des Kreises der zu Ehrenden nach ihrer politischen Orientierung und die Hervorhebung des geschichtspolitischen Nutzens der Opfer für den gesamtdeutschen Nachkriegsnationalismus.

Im Juni 1960 stand Otto Wahl im Zeugenstand bei dem Kemptener Prozess gegen Josef Schöps, der ab 1943 als „Roter“ die Position des Mauthausen-Lagerältesten innegehabt hatte und Adolf Stumpf, ein Häftling und Kapo in Mauthausen, der am 14. April 1945 der „Dirlewanger“-Einheit für den militärischen Einsatz an der Front zugeteilt wurde. Beide, Schöps und Stumpf, waren – wohl zu Unrecht - des Mordes an über 600 sowjetischen Kriegsgefangenen im KZ Mauthausen angeklagt. Otto Wahl stellte vor Gericht den beiden Angeklagten ein gutes Zeugnis aus und ließ dabei nicht unerwähnt, dass er es ablehne, Schöps und Stumpf zu belasten, „solange noch Mörder von der SS in Freiheit herumliefen“. Es handelte sich demnach um eine vor allem auch politisch motivierte Stellungnahme. Die beiden Angeklagten wurden freigesprochen.

Die Lagergemeinschaft suchte auch eigeninitiativ nach Zeugen, die über NS-Gewaltverbrechen aussagen konnten. So beispielsweise im Strafverfahren gegen den Leiter der politischen Abteilung des Konzentrationslagers Mauthausen, SS-Obersturmführer Karl Schulz (1902-1984), und den stellvertretenden Lagerführer, SS-Untersturmführer Anton Streitwieser (1916-1972). Ihnen wurde eine Vielzahl schwerster Verbrechen zur Last gelegt. 1967 wurden sie wegen mehrfachen Mordes zu lebenslänglicher beziehungsweise 15jähriger Haftstrafe verurteilt.

1960 führte Otto Wahl zusammen mit Bruno Lindner die BRD-Delegation bei der 15-Jahrfeier der Befreiung des KZ Mauthausen in der Gedenkstätte Mauthausen an. In diesem Jahr beschloss das Internationale Mauthausen Komitee (CIM), in dem Otto Wahl die westdeutschen ehemaligen politischen Häftlinge vertrat, die Errichtung eines Museums in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Dazu waren die ehemaligen Häftlinge beziehungsweise „Kameraden“ aufgerufen, Unterlagen, Dokumente und sonstige Materialien aller Art, soweit noch vorhanden, zur Verfügung zu stellen. Die Dauerausstellung wurde 1970 eröffnet.

Otto Wahl blieb seiner Partei immer verbunden, wahrte sich jedoch eine gewisse Unabhängigkeit und Selbständigkeit im politischen Denken und Handeln. So lehnte er beispielsweise eine geplante Ehrung seiner Verdienste bei der Jahresfeier der VVN Stuttgart, die Mitte Januar 1978 stattfinden sollte, ab und begründete dies in einem Schreiben an des Landessekretariat der VVN: "Sicher gibt es viele Menschen, die an Orden und Ehrenzeichen interessiert sind und Gefallen daran finden. Für mich trifft dies nicht zu. Ich sehe nicht ein, dass ich besondere Verdienste erworben hätte und wenn, dann glaube ich nicht, dass es durch Verleihung von Medaillen und Urkunden bei einer Massenabfertigung geschehen sollte. (...) Zum ersten Mal nach vielen Jahren nehme ich deshalb an der Jahresfeier nicht teil".

In der Zeit von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) in der damaligen Sowjetunion hegte Otto Wahl die Hoffnung auf einen humanen Kommunismus. Und seine Kritik an der Politik der KPdSU – vor allem in der Stalin-Zeit – wurde immer massiver. Auch die Unzufriedenheit mit der Führung seiner eigenen Partei nahm zu. Doch im Gegensatz zu seinem langjährigen Freund und Genossen Golf Bodenhöfer, der mit Tränen in den Augen sein Partei-Buch zurückgab, blieb Otto Wahl DKP-Mitglied.1

Otto Wahl setzte sich für die Pflege des Gedenkens an die KZ-Lager ein, die er gerade in Westdeutschland als ausgesprochen defizitär wahrnahm. So monierte er in einer in Tübingen am 9. Juni 1982 gehaltenen Rede, „dass alle Nationen, fast aus der ganzen Welt, in diesem Konzentrationslager Mauthausen ein Mahnmal errichtet haben. Nur wenn ihr eines von der Bundesregierung suchen solltet, werdet ihr keines finden!“ Im Jahr darauf wurde ein solches Denkmal errichtet, allerdings ohne die westdeutsche Lagergemeinschaft dabei zu konsultieren.

Bis zu seinem Lebensende vertrat Otto Wahl die westdeutsche Lagergemeinschaft im Internationalen Mauthausenkomitee (Comité International de Mauthausen, CIM). Otto Wahl starb am 8. Oktober 1997.

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Wahl, Otto Nachruf
Nachruf, Antifa-Nachrichten 1/Jan.1998. VVN-Archiv Stuttgart

Die Begegnung mit Otto Wahl war für eine Gruppe Stuttgarter Antifaschistinnen und Antifaschisten Anlass, erstmals im Mai 1995 - zum 50. Jahrestag der Befreiung - nach Mauthausen zu fahren. Der damalige Besuch der KZ-Gedenkstätte und die Teilnahme an der Befreiungsfeier gaben den Impuls zur Gründung der Stuttgarter „Antifaschistischen Initiative gegen das Vergessen“, die in den Folgejahren regelmäßig Fahrten nach Mauthausen organisierte. Aus der Initiative ist dann das „Mauthausen Komitee Stuttgart e.V.“ hervorgegangen.

Seit Mitte 2020 trägt in Rohracker eine Staffel, die von der Rohrackerstraße den Kirchweinberg hinaufführt, Otto Wahls Namen. Die Markierung auf der Übersichtskarte zeigt seinen Wohnsitz in der Rohrackerstraße 248 in Stuttgart-Rohracker.

 

 

 

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 1 Bericht von Hermann G. Abmayr über die Dreharbeiten zu der Fernsehdokumentation „Immer flauer wird die power“, in dem Otto Wahl und Golf Bodenhöfer wichtige Protagonisten waren, SDR 1990

 

Quellen und Literatur

ITS Digital Archive, Arolsen Archives
Auskunft vom 5. und 8. Januar 2024
1.1.6.2 Individuelle Unterlagen Dachau
1.1.26.3 Individuelle Unterlagen Männer Mauthausen
Korrespondenzakte TD 104625
1.1.6.1 / 9907667 Stapo Stuttgart II D v. 2.5.1938
1.1.6.1 / 9909243 Veränderungsmeldung KZ Dachau
1.1.26.1 / 1308534 Veränderungsmeldungen des KZ Mauthausen
1.1.26.1 / 1308533 Veränderungsmeldungen des KZ Mauthausen
1.1.26.1 / 1289014 Operationsbuch des KZ Mauthausen

Staatsarchiv Ludwigsburg
EL 350 I Bü 2438
FL 300/33 I Bü 14029
E 356 g Bü 1886
E 356 d V Bü 1573

VVN-Archiv Stuttgart
WgA 365

Privatarchiv Otto Wahl (Ingrid Bauz)

Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen (AMM)
V/03/92 (Bericht des ehemaligen Häftlings Otto Wahl)

Otto Wahl: Mauthausen begann in Dachau, undatiertes Manuskript, Privatarchiv Otto Wahl

Hermann G. Abmayr, Ulrich Weitz (Hg.): Alltag macht Geschichte. Stuttgart-Rohracker - eine andere Heimatkunde. Stuttgart 1990.

Allgäuer Heimat und Bayern-Chronik v. 22.6.1960: Eine gewaltige Anklage ist fast zusammengebrochen.

Der Neue Mahnruf. Zeitschrift für Freiheit, Recht und Demokratie. Wien 1948 ff.

Ingrid Bauz, Sigrid Brüggemann: Otto Wahl, in: Andreas Baumgartner, Isabella Girstmair, Verena Kaselitz (Hg.): Wer widerstand? Who resisted? Biografien von WiderstandskämpferInnen aus ganz Europa im KZ-Mauthausen, Wien 2008, S. 308-313.

Theodor Bergmann: "Gegen den Strom". Die Geschichte der Kommunistischen Partei-Opposition. Hamburg 1987 (leider ist Otto Wahls Name in der Ausgabe von 1987 aufgrund eines technischen Fehlers beim Seitenumbruch auf S. 233 f. untergegangen; erweiterte und revidierte Neuauflage 2021).

Josef Foschepoth: Verfassungswidrig! Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg. Göttingen 2020.

Hans-Peter Klausch: Antifaschisten in SS-Uniform. Schicksal und Widerstand der deutschen politischen KZ-Häftlinge, Zuchthaus- und Wehrmachtsgefangenen in der SS-Sonderformation Dirlewanger. Bremen 1993, S. 322-325 (mit Dank an Volger Kucher, VVN-Archiv Stuttgart, für den Hinweis).

Hans Maršálek: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Wien Linz 3. Aufl. 1995, S. 253.

Mauthausen Komitee Stuttgart (MKS): Otto Wahl. Stuttgart 2008.

Lutz Niethammer: Aktivität und Grenzen der Antifa-Ausschüsse 1945. Das Beispiel Stuttgart, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1975/3 (https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1975_3_3_niethammer.pdf).

Ulla Plener: Kurt Schumacher und Kommunisten in den Konzentrationslagern (1933-1943), in: Utopie kreativ, Heft 65, 3/1996 (https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/65/65.pdf).

Ulrike Springer: "Objekte erzählen Geschichte(n)". Objekt: Helme der Lagerpolizei (https://www.mauthausen-memorial.org/de/Videos/Objekt-Helme-der-Lagerpolizei).

Doris Warlitsch: Die (Lager-)Feuerwehr im Konzentrationslager Mauthausen – zwischen Widerstand und Kollaboration, in: Mauthausen Jahrbuch 2011.

„Immer flower wird die power“. Filmdokumentation von Erich Schütz und Hermann G. Abmayr anlässlich des 100. Jahrestages der 1. Mai-Feiern. SDR 1986, ca. 30 Min. Enthält Beiträge zur Geschichte des ehemaligen Arbeitervereins Rohracker und Statements von Otto Wahl.


© Text und Recherche:
Roland Maier, Stuttgart. Mit Dank an Hermann G. Abmayr für Hinweise und Korrekturen.
Stand: Mai 2024
www.kz-mauthausen-bw.de